"Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?" – wieso diese Frage wenig Sinn ergibt (2024)

"Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?" – wieso diese Frage wenig Sinn ergibt (1)

von Eugen Epp

3 Min.

Zum Ende des Jahrzehnts wird nicht nur in Bewerbungsgesprächen darüber reflektiert, was man in den nächsten zehn Jahren vorhat. Dabei sind solche Pläne ohnehin zum Scheitern verurteilt, meint unser Autor.

In Bewerbungsgesprächen gehört die Frage zum Standard, gestellt irgendwo zwischen den Stärken und Schwächen und den Gehaltsvorstellungen: "Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?"Personaler wollen so herausfinden, welche langfristigen Ziele der Mensch, der ihnen gegenübersitzt, verfolgt. Ob er überhaupt in der Lage ist, so weit in die Zukunft zu denken, ob er einen Plan für sein berufliches Leben hat.

Die Frage mag im Vorstellungsgespräch noch ihre Berechtigung haben. In manchen Branchen erlauben es die Rahmenbedingungen, von vornherein ein Ziel anzustreben. Manche Karrieren verlaufen tatsächlich wie am Reißbrett entworfen. Trotzdem gibt es keine Garantien: Es kann immer etwas dazwischenkommen. In öffentlichkeitswirksamen Branchen wie Sport oder Politik gibt es viele Talente, die böse abgestürzt sind. Sie werden jetzt auf die Frage nach ihrem Zehn-Jahres-Ziel womöglich nur bitter lächeln. So weit in die Zukunft zu schauen, ist schon im Beruf schwierig – und erst recht im Privatleben.

Wo ich in zehn Jahren sein will? Keine Ahnung!

Denn auch dort wird die Frage immer wieder gestellt, besonders häufig jetzt, am Ende eines alten und zu Beginn eines neuen Jahrzehnts. Wo willst du in zehn Jahren sein, wird dann in Ratgebern gefragt, wer willst du sein? Man solle sich Ziele setzen und kleine Etappen, um sicherzustellen, dass man diese Ziele auch erreicht. Das persönliche Leben wird durchgeplant wie eine ökonomische Prognose: Wie viel Geld will ich am Ende des nächsten Jahrzehnts besitzen, auf welchem Stuhl will ich sitzen, wie viele Kinder haben und wo will ich leben?

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Die ehrliche Antwort auf diese Fragen müsste wohl lauten: Was weiß ich? Man hat Vorstellungen vom Leben, vielleicht sogar Träume. Aber über konkrete Ziele im Leben macht man sich nur selten Gedanken, auch nicht, wenn der Kalender in eine neue Dekade umspringt.

Doch auch wenn wir Antworten auf diese Fragen parat haben, sind die heute nicht viel wert. Darüber nachzudenken, was in zehn Jahren sein soll, ist aus zwei Gründen müßig. Der erste sind wir selbst. Der zweite ist das Leben.

Wir sind heute auch jemand anders als vor zehn Jahren

Viele von uns sind wahrscheinlich nicht dort gelandet, wo sie sich vor zehn Jahren hingewünscht hätten. Das klingt tragischer als es letztendlich ist, denn viele von uns würden sagen: zum Glück. Das zehn Jahre jüngere Ich hatte Vorstellungen vom Leben und der Zukunft, die sich mit mehr Lebenserfahrung höchstens noch belächeln lassen. Man verändert sich, das Denken verändert sich, und irgendwann will man mit den Zielen, die man sich selbst einmal gesetzt hat, nichts mehr zu tun haben.

Das ist nichts Schlimmes, sondern ein völlig normaler Reifeprozess. Nichts ist hingegen so langweilig (und manchmal so gefährlich), wie Menschen, die nicht in der Lage sind, dazuzulernen. Jetzt schon sein Ziel für das nächste Jahrzehnt festzulegen, bedeutet also auch, sich in der Wahl seiner Möglichkeiten einzuengen und davon auszugehen, dass man in zehn Jahren noch genauso denken wird wie heute –dass man also keine neuen Erfahrungen gemacht, dass man keine interessanten Menschen getroffen haben wird, die den eigenen Horizont erweitern, und dass man in seiner Entwicklung stagniert. Eigentlich ziemlich traurig.

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Das Leben macht ohnehin, was es will

Das zweite Problem mit der Zukunft ist, dass sie so verdammt schwer vorauszusagen ist. Und genau deshalb ist bei den meisten Plänen, die wir schmieden, das Scheitern nur eine Frage der Zeit und der Form. Leben passiert, während wir genau das machen: Pläne. Und Scheitern.

Da können die Stationen zum Zehn-Jahres-Ziel noch so gut gesetzt sein, niemand weiß, was auf dem Weg passiert. Zwischen den Plänen kann das Leben schön und grausam sein. Mal haut es einem mit Anlauf in die Fresse und zwingt uns dazu, ein paar Runden auszusetzen. Vielleicht kommen wir später ans Ziel, vielleicht auch gar nicht. Mal rutscht man unverhofft nach oben, unten oder zur Seite, auf einen Weg, den man freiwillig nie eingeschlagen hätte. Und manchmal erweist sich dieser als durchaus gangbar, vielleicht sogar als geradezu perfekt – es war nur nicht der ursprünglich geplante.

Macht ruhig Pläne – aber wundert euch nicht, wenn es anders kommt

Das sollte uns nicht davon abhalten, unsere persönliche Bilanz für die vergangenen zehn Jahre zu ziehen, aus unseren Fehlern zu lernen und in unseren Stärken noch stärker zu werden. Die Vergangenheit ist nicht selten ein guter Ratgeber für die Zukunft – in der einen oder anderen Hinsicht. Genauso wenig sollten wir darauf verzichten, Vorstellungen und Pläne für die Zukunft zu entwickeln.

Sich der Illusion hinzugeben, dass es dann auch genauso kommt, ist gefährlich. Irgendwas wird immer schiefgehen, da kann man sich sicher sein. Und irgendwas wird ganz anders laufen als gedacht. Aber das muss ja nicht schlimm sein.

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