Neurologie: Wie jeder zu Nerven aus Stahl kommen kann - WELT (2024)

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"Jetzt beherrsche dich doch einmal", ein Spruch, den jeder in seiner Kindheit zur Genüge gehört hat. Schon früh sollen die Kinder lernen, sich zu kontrollieren. Selbstbeherrschung ist eine grundlegende Fähigkeit, die es uns erst möglich macht, in unserer Gesellschaft zu leben. Man stelle sich vor, wenn wir sie nicht hätten: Wir würden den ganzen Tag im Bett liegen, unseren Körperfunktionen freien Lauf lassen und jeden anspringen, der unser Begehren weckt.

Im täglichen Leben werden wir ständig auf die Probe gestellt, müssen das Verlockende lassen und das Unangenehme tun. Nicht selten hängt unser Erfolg davon ab, ob wir Willensstärke zeigen, doch nicht immer können wir widerstehen. Aber warum können wir uns unseren Trieben widersetzen - oder weshalb geben wir in gewissen Fällen doch den Verlockungen nach? Studien ergeben jetzt: Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung sind nicht immer angeboren - medizinische Tricks helfen auf die Sprünge. Die Forscher vergleichen die Selbstbeherrschung mit einem Muskel, den man trainieren kann, der aber auch mit Energie versorgt werden muss.

"Willenskraft ist treffend"

Die Ergebnisse der aktuellen Forschung deuten darauf hin, dass Selbstbeherrschung eine Ressource ist, die sich erschöpft. "Der Begriff Willenskraft ist daher sehr treffend", sagt Roy Baumeister. Er erforscht an der Universität Florida die Eigenschaft der Selbstbeherrschung und durch was sie beeinflusst wird. Er hat seine neuesten Erkenntnisse in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins "Current Directions in Psychological Science" veröffentlicht.

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Für ihre Studien stellten er und sein Team Probanden Aufgaben, die ihre Fähigkeit zur Selbstbeherrschung auf die Spitze trieben. Die Testpersonen mussten zum Beispiel einen Film schauen, der sie zum Lachen oder Weinen animierte, und durften dabei mit keiner Wimper zucken. Die Kontrollpersonen durften ihren Emotionen dagegen freien Lauf lassen. Anschließend untersuchten die Wissenschaftler das Blut der Probanden auf den Zuckergehalt. Verblüffendes Ergebnis: Bei denjenigen, die keine Gefühlsregung zeigen durften, fanden die Wissenschaftler einen stark gesunkenen Blutzuckerspiegel. Bei der Kontrollgruppe war er hingegen gleich geblieben. Anschließend gab es eine zweite Aufgabe zur Selbstkontrolle. Ergebnis: Jene Probanden, die bereits während des Filmes ihre Gefühle kontrollieren mussten, schnitten viel schlechter ab als die anderen.

Rauf mit dem Blutzucker

Das Ergebnis fiel deutlich anders aus, wenn zwischen den Tests zuckerhaltige Limonade gereicht wurde: Bekamen die Probanden nach dem ersten Durchlauf ein Getränk, das den Blutzuckerspiegel nach oben trieb, dann schnitten sie beim zweiten Test besser ab. Ein künstlich gesüßtes Getränk konnte diesen Effekt nicht erzeugen.

Naschen kann also die Selbstdisziplin stärken. Ein Effekt, den sich viele unbewusst zunutze machen, wenn sie sich auf eine Aufgabe konzentrieren müssen. "Glukose ist Treibstoff fürs Hirn, ich rate aber eher, zu proteinreichen Snacks zu greifen. Deren Effekt hält länger an als der von reinem Zucker", sagt Baumeister.

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Auch wer das Rauchen aufgeben will, tut gut daran, sein Hirn ausreichend mit Energie zu versorgen: Eine andere Studie hat nachgewiesen, dass Glukosetabletten bei Rauchstopp sogar besser helfen als Nikotinpflaster.

Kleine Portionen besser als garnichts

Auch wer Gewicht verlieren will, braucht viel Willensstärke, und die wird genau durch den Nahrungsentzug unterdrückt. Wen wundert es da, dass so viele Diäten schiefgehen? "Man weiß, dass Leute, die kleinere Portionen zu sich nehmen, bessere Erfolgschancen haben als solche, die auf ganze Mahlzeiten verzichten, was mit dem Absinken des Blutzuckerspiegels zu tun haben dürfte", sagt Baumeister.

Auch bei der enthemmenden Wirkung von Alkohol dürfte die Glukose im Blut eine Rolle spielen. Wissenschaftler haben festgestellt, dass durch den Alkoholkonsum der Zuckerumsatz gestört wird. Insbesondere das Hirn bekommt weniger Glukose, was zumindest zum Teil dafür verantwortlich ist, dass man unter Alkoholeinfluss manchmal Dinge tut, die man im Nachhinein bereut.

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Doch nicht alles hängt an der süßen Nahrung im Blut: "Unsere Studien ergeben", sagt Baumeister, "dass Selbstdisziplin wie ein Muskel durch regelmäßige Übung gestärkt werden kann. Es lohnt sich, sie mit kleinen Aufgaben zu trainieren, selbst wenn diese sinnlos sind. So kann man seinen Willen stärken und leichter Ziele erreichen, die einem wirklich wichtig sind."

Hilfreich kann auch sein, sich auf starke Erinnerungen zu konzentrieren. Kathleen Vohs, Professorin für Marketing an der Universität von Minnesota, hat in Studien beobachtet, dass Lachen und positive Gedanken dazu führen, dass die Leute in Selbstbeherrschungsaufgaben besser abschnitten.

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